letzte Rituale

Eines gleich vorweg.
Hier wird die letzte Begleitung in der Sozialen Arbeit beschrieben.
Somit bleiben der Erzähler und der Protagonist im Dunkeln –
unbeschrieben, dem Diktat der Verschwiegenheit verpflichtet.

Er liegt am Boden, zwischen all den Dingen, die ein Leben so hinterlässt.
Schläuche in der Nase, ein Arm nach hinten abgewinkelt.
Die Morgensonne macht das Gesicht wächsern grau, die Augen sind geschlossen, barmherzig zugedrückt.
Er liegt vor dem Bett, auf dem er zuvor noch saß.
Leere Zigarettenschachteln und zerknüllte Päckchen mit bröseligem, trockenem Tabak bilden einen willkürlichen Rahmen um ihn.
Dazwischen liegen Streichholzschachteln, Zigarettenpapier, Socken und
eine Fernbedienung.
Alles in einem wirren Durcheinander, aber oft schon gesehen in dieser wiederkehrenden Ähnlichkeit.
Unter dem hellen Stechen der Desinfektionsmittel riecht es schwach nach Tabak, alter Wäsche und dem süßen, modrigen Duft von Äpfeln, die zu lange in einem warmen Raum liegen.

Ein leerer Saftkrug und ein halb volles Glas stehen auf dem kleinen Tisch, der gezeichnet ist von Brandflecken, kreisrund und an den Rändern schwarz.
Unter den Flecken kommt die braune Maserung der Pressspanplatte hervor.
Am Stuhl liegt ein Hemd, zerknüllt und ebenso fleckig wie der Tisch.
Die am Boden verstreuten DVDs sind aus den bunten Hüllen gefallen.
Sie versprechen ein anderes Leben, Poster an der Wand erzählen von einem Schöneren.

Er hat es nicht geschafft, nicht durchgehalten.
Er hat die Übersicht verloren im System von Sucht,
Entzug und der Wartezeit dazwischen, vielleicht auch die Kraft.

Sicher aber die Geduld. Er hat es viel zu oft versucht!
Er hatte den Therapieplatz vor Augen, doch die Wartezeit für den voraussetzenden Entzug war zu lang.
Letztendlich war sein Leiden nicht akut genug, um die Aufnahme zu beschleunigen.

Sechs Menschen stehen nun um ihn herum;
Nach der ersten Hilfe des Sozialarbeiters kamen Notarzt und Rettung.
Betroffenheit, Schock und Trauer stehen neben trösten wollender Geschäftsmäßigkeit.
Er wird zugedeckt. Die nutzlosen Geräte werden verräumt, es wird zusammengepackt.
Die medizinischen Helfer verlassen entschuldigend den Lebenden, denn ihre Arbeit ist getan. Der Lebende bleibt da und wartet, in einer unwirklichen Situation gefangen. Der, der da liegt, ist nicht mehr der Selbe, mit dem er noch gestern gesprochen hat.
Es bleibt vorerst nichts zu tun, als den Toten zu bewachen.

Die Polizei klärt als nächstes das Verschulden. Sie stellt kurze Fragen und es folgt die Aufnahme des Protokolls. Als auch dies abgeschlossen ist, wird der Amtsarzt verständigt, der drei Stunden später kommt.
Drei Stunden, in denen der Tote am Boden vor dem Bett liegt. Unbewegt, aber zugedeckt. Der Arm im selben Winkel abgebogen, die Schläuche unverrückt, und auch die Gesichtsfarbe ändert sich nicht mehr. Ein kurzer Blick, dann eine kurze routinemäßige Untersuchung.
Ausgezogen und abgetastet.

Er kann abgeholt werden – die Gerichtsmedizin wartet.
Eine Stunde später kommen die Bestatter.

Sie beginnen ihren Tanz auf kleinstem Raum.
Pietätvoll zu Beginn, selbstvergessen im Ritual der Arbeit zuletzt.
Dass sie aufeinander eingespielt sind, sieht man an ihren sparsamen
Bewegungen, an den kurzen Blicken, am stillen Einverständnis.
Interessiert wird der Nachlass beschaut.
„Die DVD schon gesehen?“
„Nein!“
„Ist aber gut!“
Sie erinnern sich an den Anderen, der da noch herumsteht und machen weiter
im Stillen. Die Handgriffe sind kurz, die Arbeit vertraut.
Nackt, wie vom Amtsarzt verlassen, wird er auf die Bahre gelegt, auf der der Leichensack schon wartet. Doch so schnell wird der nicht geschlossen.
Zuerst noch die wichtigsten Fragen an den Sozialarbeiter.
„Wertgegenstände?“
„Nein!“
„Dokumente?“
„Nein!“
„Angehörige?“
„Ja, aber die informieren wir!“
Nach kurzem, erleichtertem Blickwechsel beendet das leise Surren des Reißverschlusses die Stille.

Die körperliche Anstrengung des Tragens und Schiebens lässt die Stimmen und Geräusche lauter werden.
Ächzen und Schnaufen, denn der Mensch hat auch im Tod noch sein Gewicht.
Dieser hier vielleicht zum ersten Mal.

Es geht die Stufen hinab.
Dem Einwand des Sozialarbeiters, dass es hier zu eng für die Bahre sei – nein, den bringen wir schon durch -, wird endlich Glauben geschenkt.
Man muss zurück und versucht, den Leichnam durchs Fenster zu hieven.
Obwohl die Häuser eng beieinander stehen, ist weit und breit kein Nachbar zu sehen. Auch nicht – wie sonst üblich – hinter den Gardinen der Fenster.
Das erspart Einiges.
Endlich ist es geschafft; die Hindernisse sind überwunden, die Bahre ist im
Lieferwagen.

Mittlerweile ist es später Nachmittag geworden. Die Sonne scheint noch immer, aber schwächer und dem Horizont zugeneigt.

Da es keinen Kontakt zur Familie gab, ist es nun am Sozialarbeiter, die letzten Schritte zu tun.
Er versucht, den Alltag der Übriggebliebenen zu regeln.
Die Bekannten werden informiert, die Verwandten schonend schockiert.
Er versucht aus der liegen gebliebenen Kleidung etwas Passendes für die Beerdigung zusammensuchen und bringt es zum Bestattungsunternehmen.

Dann wartet er, bis die Gerichtsmedizin den Toten freigibt.
Es wird ein Armenbegräbnis werden. Er teilt den Angehörigen den Begräbnistermin mit und spricht mit dem Seelsorger, der für einen ihm Unbekannten die letzte Rede halten wird.

Zuletzt versucht er, die Todesursache zu erfahren.
Der Notar verweist auf die Gerichtsmedizin. Diese gibt aber keine Auskunft und verweist auf die Familie, die aber von nichts mehr wissen will und auf den Hausarzt verweist. Dieser verspricht, sich darum zu kümmern; er wird sich verlässlich melden.
Der Sozialarbeiter wartet noch.